Freitag, 21. April 2017

Die Ganzwerdung


(Urheberrecht bei Ricardo Holland)




Die   Betrachtung der Wirklichkeit basiert auf der überwältigenden Faszination der Gewissheit. Die Gesellschaft stellt Hauptkategorien auf, die Gültigkeit für diese Gewissheit besitzen: Raum, Zeit, als absolute Dimensionen. Die Energie, die  dieses Faszinosum  ermöglicht, entsteht aus ihrem kollektiven Komplex. Er charakterisiert sich durch seine einseitige maskuline Orientierung und durch seine entgegengesetzte Form, der Verdrängung des Weiblichen. Die höchsten Werte  dieser Kultur streben hauptsächlich nach maskulinen Universalien, sodass die meisten Individuen von dem männlichen Prinzip besessen sind. Die weiblichen Anteile werden unterdrückt, verdrängt,  als minderwertig erlebt, deshalb leidet diese Sozietät unter dem Minderwertigkeitskomplex des Weiblichen, wodurch die notwendige Kraft für  die Durchsetzung der Hauptfunktion der Gesellschaft entsteht, der Ratio,  die Raum und  Zeit effektiv für ihren funktionalistischen Zweck verwandelt und gebraucht.
Die Gesellschaft determiniert und  programmiert die Menschen hinsichtlich ihres Faszinosums derart, dass sie die ihnen gestellten Aufgaben schnell und möglichst perfekt erfüllen, ohne tiefer nach deren Sinn zu fragen.
Die Bevorzugung der Funktion der Vernunft dient wesentlich zum Vor-teil der Sozietät aber zum Nachteil der Individualität.

Das hat Jung 1 erkannt. Er meint, dass dieser Nachteil so weit geht, dass die Organisationen der Kultur nach der völligen Auslöschung des Individuums streben, indem seine Hauptfunktion wie eine  Maschine        benutzt wird.

1 vgl., Jung, C.G. : GW. B6 , 1944


Die immer werdende Zunahme der Bewegung der Verwandlung des Raumes wird als Leistung verstanden. Der Körper und die Psyche als Raum des Menschen,  die Natur als Raum der Außenwelt fallen unter diesen Grundsatz.
Die Faszination der Gewissheit hat auch die Fragilität des Lebens  provoziert. Die Mittel zur Beherrschung des Raumes sind nicht nur Mittel zur Herrschaft über Natur und Natur des Menschen geblieben, sondern auch Mittel zur Ausbeutung von Natur und Mensch geworden.
Das Individuum wird in dieser Konzeption konstruiert. Körper und Natur sollen quantifizierbar und  geometrisierbar  sein, damit man sie effizient  verwandeln kann. Kennzeichen dieser Geometrisierung ist die Zergliederung von Arbeitsprozessen in ihre Grundbestandteile, die als isolierte Teile, messbar, kalkulierbar und damit optimal verwertbar für die Intensivierung der Verwandlung des Raumes werden.

U, Volmerg 2 (1976) zeigt die Konsequenzen, die sich aus diesen  Problemen ergeben. Der ganzheitliche Arbeitsprozess wird zergliedert  in seine Grundbestandteile. Das führt  zur Entleerung des menschlichen Arbeitsvermögens,  zur Reduzierung der Arbeitshandlungen auf einfache Verrichtungen,  zur Zerstörung menschlicher Arbeitsbeziehungen und führt zu einem objektiven Gewinn aber zur Verarmung der subjektiven Seite des Menschen.

In der Gesellschaft gilt als Wirklichkeit der perspektivische Raum. In der  Entfaltung des Menschen nur in der raum-zeitlichen Dimension, als heutiger Wirklichkeitsform,  wird das Leben vorwiegend zum Gegenstand und der Mensch selbst zu einem Objekt gemacht, das sie rational verwandelt und meistert. K. Dürckheim   sagt, dass der Mensch unserer Zeit mehr und mehr von diesen  kulturellen Denkweisen,  Verhaltensformen und Lebensgewohnheiten geprägt wird, die ihm aufgezwungen werden.

Der geometrisierte Körper leidet unter  einer Spaltung, einer verlorenen Einheit von Körper und Subjekt. Dieser mechanistische Umgang mit dem Körper, seine Rationalisierung, Disziplinierung, Instrumentalisierung  wird als Grundlage des Fortschritts ausgenutzt. Anderseits stellt die Betrachtungsweise der Realität die in Raum und  Zeit fundiert ist, eine Reduktion der Wirklichkeit dar. Sie konzentriert und beschränkt ihren Gegenstand zum Zwecke der Verwandlung der Materie und löst ihn aus den Zusammenhängen der menschlichen Möglichkeiten heraus.

Man kann sagen, dass das Leben zeitlich vorprogrammiert wird, immer um einem durchrationalisierten Zweck zu verfolgen, ohne dass der Mensch  Raum für Spontaneität, Offenheit für das Neue, für die Ungewissheit zulässt. Bei jeder Situation ist der Mensch so prädisponiert, dass er fast kaum Eigenschaften entwickeln kann für seine innere Verwandlung, indem er kaum gefordert wird sich mit unerwarteten neuen Situationen auseinander zu setzen. In der Arbeit wird die Zeit nach Sekundenbruchteilen gemessen, organisiert und gesteuert. Innerhalb dieser monotonen Arbeit ist Zeit  nicht mehr von der Natur und vom Subjet bestimmt, so werden verschiedenartigste Erfahrungen und Wahrnehmungen aufgehoben. Es ist die Zeiterfahrung der Maschine.

Solange der Mensch dieser Kultur Zeit und Raum als eine absolute Dimension erfährt,  lebt nur eine Seite der Wirklichkeit . Die stufenweise Erziehung des Kindes in der Faszination der Gewissheit, entfremdet es zunehmend von der Transzendenz. Sie wird zugunsten des Immanenten aufgehoben und der Immanenz wird die Herrschaft über die Transzendenz zugesprochen. Begriff, Frage und Gegenstand von Erkenntnis werden verändert. Qualität steht im Hintergrund,
                                                     
im Gegensatz zur Quantität. Die Gewissheit wird als absoluter Wert erfahren und die Ungewissheit wird verdrängt. Eichhorn zeigt die Relativierung der Transzendenz auf:

„Der transzendent bestimmte absolute Sinn und Zweck von Welt und Mensch wurde relativiert, die aus der Relativierung gewonnenen immanenten Sinngebungen für Mensch und Welt wurden verabsolutiert.“ 

Die unkritische Verschmelzung von Rationalität und Realität schließt Transzendenz aus, sowohl als existentielle Erfahrung wie als Feld eines erweiterten Denkens. Die Transzendenz ist im Unbewussten eine vorhandene Möglichkeit deren Erlebnis die Aufhebung der „raum-zeitlichen“ Dimension erfordert. Die Kultur, die sich in der Gewissheit als ihrem Faszinosum erkennt, verdrängt diese Erfahrung. Das Leben wird nach Dürckheim unter solchen Umständen heillos:

„Wo diese Sicht beherrschend wird, so daß das ungegenständliche Leben und Weben, der Kontakt mit den kosmischen Mächten, das Irrationale, keinen Platz mehr haben und Transzendenz weder als Glaube noch als Erfahrung das Leben bestimmt, da ist das Leben heillos geworden.“ 

Beck   versteht  den Aufstand der deutschen Jugend in  den Siebziger  Jahren, als Enttäuschung über den Verlust der Sinndimension des „Daseins“, den sie der Generation der Eltern zuschrieben. Es war der Kampf gegen eine Gesellschaft, die die äußeren Güter überbetont bis hin zur ihrer Vergötzung. Beck meint, dass dies die kritische Situation einer jeden technokratischen Gesellschaft, die vom rein äußerlichen technischen Perfektions- und wirtschaftlichen Organisations- und Wohlstands- Denken beherrscht wird, ist.

 Diese Denkweise der Gesellschaft schließt die Wertungen des Unbewussten aus und sorgt dafür, dass sie vom Bewusstsein gar nicht mehr wahrgenommen werden. Die Psychologie Jungs postuliert das Konzept des „Selbst“, als einer psychischen Struktur, die Konstellationen des Bewusstseins mit dem Unbewussten verbindet. Diese Struktur ist final auf Ganzwerdung hingeordnet.

„Ich habe den Ausdruck «Selbst» gewählt, um die Totalität des Menschen, die Summe seiner bewußten und unbewußten Gegebenheiten, zu bezeichnen.“  

Im Selbst sind Zeit und Raum transzendiert; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren gleichzeitig, so ist die  Realität bei Jung nicht auch in raum-zeitlicher Dimension zu verstehen. Heute entlarven sich Raum und Zeit  als Pseudowirklichkeit und Illusion, Capra  , als relative Dimension. Materie ist nicht mehr als fester Stoff zu identifizieren, sie ist die „Zusammenballung von Partikeln“, die von unbekannter Lebenskraft zusammengehalten werden. Die Relativitätstheorie  zeigte, dass alle Messungen von Raum und Zeit ihre absolute Bedeutung verlieren und ihre Begriffe hinfällig sind. Zeit  kann  nicht geometrisiert werden: Vergangenheit ist nicht vorbei, Zukunft ist nur für Menschen ungewiss, weil sie nicht "wissen", und Zukunft ist längst geschehen, obwohl unsere "Augen" sie nicht sehen.

Der Mensch der in der Faszination der Gewissheit erzogen wurde verdrängt, dass  Bewusstsein und Willenskraft zum Verständnis der unterschiedlichen Realitäten allein nicht ausreichen, darum werden die notwendigerweise irrationalen Erfahrungen der "Transzendenz" geleugnet.


Für Lippe gibt es eine ganz andere Wirklichkeit als die der wissenschaftlichen Konzepte von Ursache und Wirkung nur in räumlichen Dimensionen. Es ist das Ziel des Wesens sich zur Entfaltung zu bringen.

 „Je mehr wir werden können, wie wir individuell gemeint sind, desto lebendiger kann sich diese Wahrheit auch insgesamt verwirklichen. Diese Beziehung, diese Teilhabe der Möglichkeit nach, ja diese Aufgabe ist wohl, was wir sagen wollen, wenn wir nach dem Sinn im Leben fragen."9

Die Wirklichkeit zu erkennen geht, nach Lippe, durch das Organ für das Inbild. Es ist das "Pathische", das Vermögen aufnehmender Aufmerksamkeit. Er meint, dass die Wahrheit in aller wissenden Unbestimmtheit zu suchen ist.

Die Faszination der Gewissheit die in den männlichen Universalien fundiert, ist im Körper des vergesellschafteten Individuums als Charakterpanzer abzulesen. Die innere maskuline Haltung wird sichtbar in der äußeren Haltung, in geometrischer Bewegung, in Mimik und Gestik.

Lippe schlägt körperliche Übungen vor, in denen sich das Individuum mit seinen Fehlhaltungen konfrontiert. Die Wiederentdeckung des Leibes wird ermöglicht, indem man die Fehlhaltungen und Fehlverhalten in der Übung bewusst macht. Das konfrontiert den Übenden mit den Ursprüngen der sozialpsychologischen Fehlanpassungen (als kindliche Über-Lebensstrategie), indem die






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9 vgl., Zur Lippe : 1997, 36



 eigene Lebensgeschichte mit deren Residuen in die aktuelle Lebenssituation führt.

Nach Dürckheim10 verhindert der Mensch, der vorwiegend am rational Fassbaren und Festgelegten orientiert ist, die Verwirklichung seiner Ganzheit, insbesondere auch die Entfaltung des Geistes, der alle logischen Ordnungen übersteigt. Er geht davon aus, dass dieser Mensch in Brust und Kopf sein Schwergewicht verlagert. Durch körperliche Exerzitien ist es möglich die körperliche Mitte zu finden, um die seelische Fehlhaltung zu überwinden.
Durch die Übung wird der Mensch das Gefühl der rechten Mitte gewinnen. Er wird seiner, die Ganzheit gefährdenden, Einseitigkeiten bewusst, und der sachlich orientierten Weit, die nur seine funktionalistische Seite fördert, indem sie seine tiefen Werte verdrängt.

Mit dem Verlust des Zugangs zum Gefühl kann aber auch kein Zugang zu der transzendenten Funktion der Seele gefunden werden.
Die Archetypen drücken ihr Faszinosum im Körper aus. Die Inflation des Animus zeigt sich in Bewegungen, die an die Grenzen der körperlichen und geistigen Möglichkeiten führen. Durch eine vollständige Übung wird die Ganzheit gefördert, indem auch feminine Universalien als archetypische Manifestationen im Körper zugelassen werden. In solchem Exerzitium sind beide Sphären, die die Ganzheit ausmachen, darzustellen: Die eine, die Ungewissheit meint: das Irrationale, Intuitive, Seelische, und Mystische und die andere, die Gewissheit bedeutet: das Rationale, die Form, die Kontrolle, die Beherrschung, die Disziplin meint. Dieser Prozess verlangt die Verbindung der scheinbaren Gegensätze der männlich-weiblichen Universalien zu einer Ganzheit.

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10 Dürckheim, Karlfried Graf : Hara, die Erdmitte des Menschen : 1989, S. 60



Für Neumann11 ist die Herstellung der Ganzheit des Einzelnen durch die Hervorrufung des Körperselbst als einer transpersonalen, ichüberlegenen und bewusstseinstranszendierenden Instanz im Ritual zu vollbringen.

Durch Tänze wird die transpersonale psychische Schicht im Menschen angerufen. Auf diese Weise kann der Mensch eine wirkliche Verbindung mit seiner Tiefenschichtt, dem Numinosen, in seinem Unbewussten schaffen, dies ist allerdings nur möglich, wenn er seine Verwandlung vollzieht. Neumann meint damit, dass der Mensch mit der Aufhebung des Bewusstsein in körperlichen Exerzitien sein Wesen erlebt.

Die einseitige krankhafte Struktur der Kultur kann durch ihre Faszination der Gewissheit eine andere Gestalt annehmen, indem ihre Komponente ans Licht des Bewusstsein gebracht wird. Das ist möglich, wenn ihre entgegengesetzten Kräfte nicht mehr verdrängt werden. Das Minderwertige des Sittencodex soll in die Kultur inkorporiert werden, sodass eine Polarisierung der Verhaltens- und Denkweise aufgehoben wird. Die femininen Universalien sollten in Erziehungsprozessen berücksichtigt und gefördert werden und sollen im Alltag körperlich geübt werden. Das Faszinosum verliert durch die Bewusstwerdung seinen numinosen Charakter, wenn es durch ein anderes Faszinosum ersetzt wird.

Vor dem jetzigen Faszinosum der Gewissheit wurde diese Kultur durch die Faszination der Ungewissheit lange Zeit beherrscht.
Seit Anfang des 20 Jhts. bildete sich der Anfang eines neuen Faszinosums, dessen kollektive Form in diesem Jahrtausend zum Ausdruck kommen wird.




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11 Vgl., Neumann: 1953, S. 16


Es ist die Faszination von dem, was Jung unter Ganzheit versteht. Das drückt sich aus in: dem Unfeststellbaren und dem Feststellbaren (Lippe); dem Welt-Ich und dem Wesen (Dürckheim); dem Transpersonalen und dem irdisch-menschlichen personalen Leben (Neumann); der Relativität der euklidischen Dimension gegenüber den absoluten Werten (Capra); dem Unbewussten und dem Bewussten (Jung).

Gebser postuliert auch, dass der Mensch eine neue Denkstruktur zu entwickeln beginnt, sie ist die integrale Dimension, die sich für die Aperspektivität des Raumes auszeichnet. Diese Struktur hat die Möglichkeit über die raum-zeitliche wie überraum-zeitliche Dimension zu verfügen.

 "(...) damit wird sie zu einer aperspektivischen Welt, die sowohl raumfrei als zeitfrei ist, d. h. in der unser Bewußtsein frei (bzw. befreit) über alle latenten und akuten Formen des Raumes und der zeit verfügen kann, ohne sie abzuleugnen, aber auch ohne ihnen gänzlich unterworfen zu ein."12

Man kann sagen, dass bei dem Prozess der Ganzwerdung eine Wechselspannung zwischen zwei eigenständigen Wahrheiten zu finden ist, im Gegensatz zu dem Verschmolzensein zweier Prinzipien im Einen. Es ist das Hin- und Hergehen zwischen zwei unterschiedlichen Dimensionen, die sich kompensieren anstatt abzustoßen.
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12 Vgl., Gebser: 1986, S. 175

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